Die wahre Gebetshaltung

■ Wir glauben ja an Gott als das höchste Wesen und die oberste moralische Instanz. Das christlich-katholische Verständnis des Glaubens gestattet uns, den Glauben gewissermaßen in zwei große Bestandteile aufzuteilen. Zum ersten, sogenannten theoretischen Teil, kann die Theologie gerechnet werden, weil es sich hierbei um die geistige Aufarbeitung des Glaubens handelt. Der zweite, sogenannte praktische Teil, besteht dann darin, die betreffenden Glaubenswahrheiten und moralischen Grundprinzipien ins Leben umzusetzen – den Glauben konkret und praktisch zu leben! So betont ja Jesus ausdrücklich: „Nicht jeder, der zu mir sagt: Herr, Herr!, wird in das Himmelreich eingehen, sondern nur der, wer den Willen meines Vaters tut, der im Himmel ist, wird in das Himmelreich eingehen.“ (Mt 7,21.)
Ein zentrales Bindeglied zwischen diesen zwei Bereichen stellt aber das Gebet dar. Das Gebet bezieht sich insofern auf den theoretisch-theologischen Bereich des Glaubens, weil es daraus entscheidende Impulse erhält und dadurch wesentlich geformt wird. Zugleich führt und leitet es den Menschen zur praktisch-lebensmäßigen Umsetzung des Glaubens, weil eine echte Zuwendung einer menschlichen Seele zu Gott, was ja das Gebet seinem Wesen nach ist, diese immer dazu veranlasst, dies nicht nur mit den Lippen, sondern auch mit den Taten zu bekennen! Zumal man sich im Gebet nie rein theoretisch an Gott wenden kann, weil in der gleichzeitigen Zuwendung Gottes an uns immer eine moralisch-relevante Komponente enthalten ist – gewissermaßen Sein moralischer Imperativ: „Du sollst“ Seiner Gebote! So werden im Gebet die beiden betreffenden Bestandteile einer echten Glaubenshaltung des Menschen gewissermaßen zusammengehalten und sie befruchten und inspirieren sich gegenseitig.
Somit ist das Gebet wirklich das Herzstück und der Kernbereich des Glaubens. Ohne regelmäßiges und aufrichtiges Beten muss man ja geradezu notwendigerweise glaubensmäßig verkümmern. Man kann wohl sagen, dass bei jemand, der sich zwar auf welche Weise auch immer auf einem falschen Pfad befindet, aber dennoch das Gebet wertschätzend pflegt, immer eine Chance besteht, dass er auf den rechten Pfad zurückkehrt und sich bekehrt. Denn er hält ja trotz aller Irrwege doch noch eine nicht unbedeutende Verbindung zu Gott aufrecht.
Nun müssen wir alle wohl immer wieder schmerzlich beklagen, dass unser Gebet mangelhaft ist. Wer von uns machte und macht denn nicht die Erfahrung, beim Beten mit den eigenen Gedanken abzuschweifen und oft genug ganz weit weg. Eigentlich wollen wir uns sogar ganz aufrichtig Gott in Andacht zuwenden, beschäftigen uns aber dabei gedanklich mit ganz anderen Sphären, was wir nämlich so alles erlebt haben oder was uns interessiert und fesselt.
Da das Gebet einem wirklich ein wichtiges Glaubensanliegen ist und man ihm liebenden Herzens nachgehen möchte, tut es einem aufrichtig leid, dass man dabei oft genug ganz wo anders verweilt als beim Herrn und Heiland. Das tut dann einem sehr weh, auch im Hinblick auf unseren Schöpfer und Erlöser, der es doch sozusagen verdient hätte, dass wir vor Ihm als geistige Flamme aufgingen. Stattdessen ist unser Gebet erbärmlich und bisweilen überhaupt nicht wert, so genannt zu werden. Wie soll diesem großen Mangel Abhilfe geschaffen werden?
Nun, man könnte den eigenen Schutzengel bitten, das zu ergänzen, was man beim Beten selbst nicht gut hinbekommt. Sicher wäre dies nur ein kleiner Trost, zumal man sich Gott logischerweise ja selbst in Andacht zuwenden möchte und auch soll. Wollen und sollen wir ja Gott im Gebet zunächst für alle Seine Hilfen und Gnaden aufrichtig danken, zumal auch für alle Prüfungen im Leben, die uns zum geistigen Fortschritt dienen. Ferner empfinden wir ja auch den inneren Drang, Ihn in Liebe als das höchste Gut anzubeten und dann auch inständig um all die Gnaden und Gaben zu bitten, was wir so alles brauchen könnten im Hinblick auf Zeit und Ewigkeit.
So quälen wir uns wegen der fehlenden Andacht nicht selten ab im Gebet und diese Erfahrung verursacht in uns dann nicht selten auch eine Enttäuschung. Dies führt zum Frust und bisweilen zu einer Art Verzweiflung. So entfernen wir uns noch mehr vom andächtigen Beten – fast wie ein Teufelskreis. Wie kann und soll man ihn durchbrechen?
■ Lehrer der christlich-katholischen Spiritualität empfehlen da eine bestimmte Methode, die es wert wäre, genannt und empfohlen zu werden. Man könnte sie vielleicht „Transformation“ nennen. Also geht es da um die sofortige Umwandlung des Frustes und der Verärgerung, die man wegen mangelhafter Andacht empfindet, in den betreffenden Gebetsinhalt. Wenn man nämlich betet und sich dann dabei erwischt, dass man gedanklich ganz wo anders ist, möge man sich nicht groß darüber aufregen, sondern eher versuchen, den eigenen Mangel an Andacht zu bekennen. Man schiebe das Gebet, welches man eigentlich vorhatte zu verrichten, wenigstens für einige Sekunden beiseite und sage dem Herrgott stattdessen in etwa: „Siehst Du, lieber Gott, eigentlich wollte ich Dir mein Herz ausschütten, zumal ich Dir eine ganze Menge mitzuteilen hätte, für wieviel ich Dir nämlich zu danken und um wieviel ich Dich zu bitten hätte bzw. wie sehr ich aus lauter Liebe zu Dir mit Dir eine traute Zwiesprache halten möchte. Aber siehst Du, ich kriege das nicht hin; ich mühe mich da schon seit vielen Jahren und Jahrzehnten, aber mein Gebet ist eigentlich immer noch mangelhaft, ja armselig. Diese Schwäche im Gebet offenbart wohl ganz deutlich meinen Mangel an Glaubensstärke und Hingabebereitschaft. Hilf mir da, lieber Gott, ich bin so sehr auf Deine Hilfe angewiesen.“
Hat man z.B. eine schwere Prüfung durchgemacht und diese belegt dann komplett die eigene Gedankenwelt, oder hat man eine nennenswerte Enttäuschung oder Kränkung erlitten und muss die ganze Zeit emotional aufgewühlt daran denken, so dass man kaum imstande ist, an etwas anderes zu denken und fromme Gedanken zu erwecken, könnte man z.B. diese Worte an Jesus richten: „O, lieber Heiland, jetzt wollte ich eigentlich dieses schöne Gebet an Dich richten. Aber ich muss leider feststellen, dass der Gedanke an das erlittene Unrecht sich so stark eingenistet hat in meinem Kopf und einen solchen Seelenschmerz verursacht, dass ich mich mit keinem ordentlichen Gebet an Dich wenden kann. Also bin ich immer noch viel zu stark auf mich und meine irdisch-zeitlichen Belange fokussiert und kann ob dessen Dir nicht die gebührende Ehre erweisen, die Du ja zweifelsohne verdienst. Heile also bitte dringendst die betreffenden Wunden meiner Seele! Denn sonst finde ich keine Ruhe mehr und stelle dann auch Dich längerfristig hinten an.“
Wenn wir auf diese oder analoge Weise auf unsere stark mangelhafte und manchmal sogar katastrophale Andacht beim Beten reagieren, kommen wir eher zu einer inneren geistigen Haltung, mit der wir eigentlich immer dem Herrgott begegnen sollen – Demut und Bescheidenheit! Die Erkenntnis der eigenen Schwäche und Unzulänglichkeit ist extrem heilsam für uns und unseren Glauben als Beziehung zu Gott.
Ein großes Problem von uns, Menschen, ist ja auch, dass wir uns gern etwas einreden und einbilden, dass wir nämlich meinen, bereits etwas erreicht zu haben, worauf wir stolz sein könnten. Nun, wenn wir uns eine bestimmte positive Fertigkeit erworben oder ein bestimmtes Wissen angeeignet haben sollten, welche sich für uns und die anderen als sehr hilfreich erweisen im Leben, dann dürfen wir uns darüber natürlich auch freuen. Vergessen wir dabei zugleich aber auch niemals, eine tiefe Dankbarkeit Gott als der Quelle aller guten Gaben gegenüber zu empfinden!
Dennoch machen wir oft genug die Erfahrung, dass wir trotz allem immer noch weit davon entfernt sind, die jeweils viel höhere Stufe des geistigen Fortschritts erlangt zu haben, die wir angesichts der vielen bereits erhaltenen Gnaden Gottes in der Zwischenzeit eigentlich schon erklommen haben müssten. Denn je mehr Talent man erhält, desto mehr trägt man dafür vor Gott und den Menschen auch Ver-antwort-ung.
Während der hl. Messe dreht sich ja der Priester unmittelbar vor der Kommunionausteilung mit der hl. Hostie in der Hand zu den Gläubigen um und präsentiert ihnen die heilige Gestalt. Dabei spricht er: „Seht, das Lamm Gottes, das hinwegnimmt die Sünde der Welt“. Nun befinden wir uns direkt und unmittelbar vor unserem Göttlichen Erlöser. Was tun wir dann? Bezeichnenderweise knien wir dann und sprechen die eindrucksvollen Worte: „Domine, non sum dignus! – O, Herr, ich bin nicht würdig, dass Du eingehst unter mein Dach!“
Also sollte der Grundzustand der Seele vor Gott, wenn sie sich Ihm nämlich zuwendet, immer Demut und Bescheidenheit sein: „O, Herr, ich bin nicht würdig!“ Und auch wenn wir im Gebet schmerzlich unsere Unzulänglichkeit und mangelhafte Andacht erleben und dann versuchen, auf die empfohlene Weise diese betreffende Schwäche in Gebetsinhalt zu transformieren, dann machen wir aus der Not eine Tugend und lernen eine der wichtigsten Lektionen des geistlichen Lebens, dass Gott am allerehesten eine demütige Seele erhört und sie, da sie sich primär vom eigenen Ich entleert hat, umso mehr mit himmlischen Gütern beschenken kann!
Aber auch wenn das Gebet nach dem unergründlichen Ratschluss der Vorsehung Gottes nicht auf die vom Menschen erhoffte Weise Erhörung finden sollte, vollzieht eine solche demütige Seele solche tiefe Erkenntnisse in Bezug auf die Liebe und Vorsehung Gottes bzw. erlebt eine solche innere Stärkung, dass sie dadurch einen großen Schritt im geistigen Wachstum erfährt. Bekannte ja schon die Muttergottes so eindrucksvoll: „Machtvoll waltet Sein Arm. Er verwirft die Herzen voll Hochmut, Gewalthaber stürzt Er vom Thron, Niedrige hebt Er empor. Hungrige erfüllt Er mit Gütern, Reiche lässt Er leer ausgehen.“ (Lk 1,51-53.)
■ Eine Seele, die Gott ehrlich sucht, macht ja die Erfahrung, dass ihr bisweilen Zeiten geschenkt werden, in welchen sie die Nähe Gottes emotional ganz stark erfährt. Dies verursacht eine riesengroße Freude und man geht dann auch im Gebet voll auf - das Herz lodert in Andacht und die Seele bebt in Ehrfurcht!
Dann gibt es aber auch die Phase, die ja sozusagen unseren Normalzustand darstellt, in welcher man nicht mehr jenen geistigen Höhenflug der Seele erlebt. Des weiteren erleiden wir auch Zeiten, in welchen wir sogar eine überdurchschnittliche bis starke geistige Leere empfinden, die in der geistigen Literatur auch Trockenheit der Seele genannt wird. Während dieser Zeit fühlt man sich geistig sogar völlig leer und entkräftet und bringt auch beim Beten kaum die allergeringste Andacht auf. Es ist irgendwie Sand im Getriebe und der Motor stottert sogar ganz gewaltig. Die Seele, ermattet durch das Andauern dieses Zustandes, schreit geradezu zum Himmel: „Wo bist Du, Gott? Ich vermisse schmerzlich Deine Gegenwart. Zeigt Dich mir! Ich bin ganz leer und gehe zugrunde.“
Die Heiligen machten ebenfalls eine solche Phase der inneren geistigen Trockenheit durch. Davon wird z.B. in den Sammlungen der Sprüche der frühchristlichen Mönche in Ägypten berichtet. Das kann man auch in den Schriften des hl. Johannes von Kreuz nachlesen. Die hl. Theresia von Lisieux berichtet ebenfalls über eine solche von ihr durchlittene Trockenheit der Seele.
Aber es wird uns dann auch der Rat gegeben, in einer solchen Situation nicht zu verzweifeln und aufzugeben. Ja, wir haben wohl alle die Neigung, im und durch das Gebet gute Gefühle zu erwecken, um emotional etwas Schönes und Tröstendes zu erfahren. Manchmal jagen wir regelrecht danach. Ebenso meinen wir, unser Gebet sei eigentlich nur dann gut und wertvoll, wenn wir dabei eine beglückende Andacht hätten und die Nähe Gottes emotional spüren würden.
Aber es ist und bleibt immer noch der Herrgott, der darüber entscheidet, wem, zu welcher Zeit und in welchem Ausmaß Er einerseits durch die Erfahrung Seiner beglückenden Nähe Phasen eines starken inneren Trostes gewährt und andererseits die Seele wegen der geistigen Trockenheit eine harte Prüfung durchleben lässt. Offensichtlich will Er uns in diesem zweiten Fall prüfen, was wir auch im und durch das Gebet eigentlich suchen – ob wir vor Gott unser Haupt in jedem Fall in Demut beugen und auf Ihn sozusagen in guten wie in schlechten Zeiten unser entscheidendes Vertrauen setzen oder ob wir das Gebet überwiegend als ein Mittel zur Erlangung schöner Gefühle ansehen, benutzen und somit auch irgendwie missbrauchen.
Lehrer der christlich-katholischen Spiritualität geben in Bezug auf das Gebet den goldenen Rat, grundsätzlich für alles dankbar zu sein, was auch immer der liebe Gott für einen zulässt – ob man nämlich die Nähe Gottes emotional empfindet und dadurch viel Trost erfährt, oder ob man beim besten Willen nicht viel Andacht aufbringt und darunter ehrlich leidet. Man schütte seine Seele im Gebet vor Gott immer so aus, in welchem emotionalen Zustand auch immer sie sich gerade befindet. Es soll in jedem Fall eine Hingabe der Seele an Gott sein, das ist wertvoll und entscheidend.
Die oben beschriebene Methode der „Transformation“ passt ja auch gut in die Logik dieser Ratschläge hinein. Man soll beim Beten sein Streben nicht in erster Linie danach ausrichten, möglichst oder sogar unbedingt starke innere Gefühle zu erzeugen. Es wäre ganz falsch anzunehmen, die Frage nach der Stufe des Fortschritts im geistigen Leben würde von der Frage nach der Stärke der betreffenden Emotionen abhängen.
Worauf es ankommt, sagen uns die Heiligen: Schütte deine Seele aus! Schütte deine Seele vor dem Herrgott aus und wende dich an Ihn, wie auch immer du dich dabei jeweils fühlst – ob du gerade einen geistigen Höhenflug vollziehst oder meinst, nur zu einer Bruchlandung in der Lage zu sein! Mache gerade deinen jeweiligen Zustand der Seele zum Inhalt deines Gebetes! Es soll in jedem Fall eine möglichst ganzheitliche Hingabe an Ihn sein, und zwar in dem Maß, zu welchem du zum jeweiligen Zeitpunkt fähig ist.
Ja, manchmal ist man gefühlsmäßig auch ganz unten und muss sich zum Gebet geradezu zwingen – fast nach der Art einer leidigen Pflicht. Aber man soll auch dann das Gebet nicht leichtfertig ausfallen lassen. Denn sonst läuft man Gefahr, vieles von seinen Emotionen abhängig zu machen und leichtsinnig bei der Herangehensweise an die eigenen religiösen Pflichten zu werden. Außerdem sieht Gott dann unser Opfer und tröstet uns im Lauf eines solchen Gebetes, welches im sogenannten Leerlauf angefangen hat, mit so mancher Freude, mit welcher man zu Beginn überhaupt nicht gerechnet hat.
Wenn wir also beim Beten vor Gott immer wieder auch unsere geistige Armut und die betreffenden Unzulänglichkeiten schonungslos bekennen, drehen wir auch irgendwie den Spieß um. Vom Teufel in der Andacht gestört, um von Gott abgebracht zu werden, nutzen wir diesen Mangel an Andacht primär dazu, in Demut und Bescheidenheit zu wachsen! So gelangen wir dann aber auch umso schneller zu dem Zustand der Seele, der dem Heiland am liebsten und willkommensten ist. Das Gebet einer solchen demütigen Seele wird zweifelsohne auch am ehesten von Gott erhört, egal, wie viele Emotionen sie dabei empfinden mag! „Selig die Armen im Geist! Ihrer ist das Himmelreich“ (Mt 5,3).

 

P. Eugen Rissling

 

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